Lied über Earendil

Aus Ardapedia
(Weitergeleitet von Earendillinwe)

Das Lied über Earendil (Original: Song of Earendil)[1] ist ein Gedicht J. R. R. Tolkiens, veröffentlicht als Bestandteil des Herrn der Ringe. Darin wird es von Bilbo Beutlin verfasst und vorgetragen. Es ist eine kurze Fassung der Geschichte von Earendils Reise in den Westen.

Beschreibung

Entstehung

Bald nach seiner Rückkehr von der Fahrt zum Erebor verfasste Bilbo das Gedicht Irrfahrt, welches in einem von ihm erfundenen metrischen System gehalten war. Er war so stolz auf diese Erfindung, dass er während seines „Ruhestandes“ in Elronds Haus ein weiteres Gedicht in diesem System verfasste, das Lied über Earendil. Am 24. Oktober 3018 D. Z. hatte er es fertiggestellt und trug es in der Halle des Feuers vor.

Da er zuvor Aragorn gebeten hatte, ihm beim letzten „Feinschliff“ des Gedichts zu helfen, wollte er die Elben von Bruchtal nach seinem Vortrag raten lassen, welche Teile des Gedichts von ihm selbst und welche von Aragorn verfasst waren. Lindir jedoch war der Ansicht, dass Elben sich dazu nicht genug mit Sterblichen und ihrer Lyrik auskennen. Bilbo verriet Frodo, dass Aragorn nur auf der Erwähnung des Elessar bestanden habe und das Gedicht ansonsten allein von ihm selbst sei. Aragorn sei der Meinung gewesen, dass Bilbo es allein zu verantworten habe, wenn er im Haus von Elrond ein Lied über dessen Vater dichte.

Lindir bat Bilbo, das Gedicht noch einmal vorzutragen – was laut Bilbo ein Zeichen hoher Wertschätzung war.

Inhalt

Im Lied über Earendil erzählt Bilbo eine Kurzfassung der Geschichte Earendils, des Seefahrers.

Er berichtet, wie Earendil in Arvernien sein Schiff Vingilot baut, sich rüstet und bewaffnet und aufbricht, um Belegaer zu überqueren und Aman zu finden. Earendil gelangt bis zur Helcaraxe und in den äußersten Süden, erreicht jedoch nicht sein Ziel, erhascht nicht den kleinsten Blick auf Valinor. Schließlich treiben ihn heftige Sturmwinde zurück in Richtung Mittelerde.

Doch aus diesem Sturm stürzt seine Frau Elwing in Gestalt einer Möwe auf sein Schiff – und sie trägt den Silmaril bei sich, den Beren und Lúthien aus Angband retteten. Elwing krönt Earendil mit dem Silmaril, und der Wind dreht sich: Die Vingilot wird nun nach Westen getrieben, und zuletzt gelangt sie doch noch nach Eldamar.

In Tirion erholt sich Earendil von seinen Irrfahrten, und schließlich wird er nach Ilmarin auf dem Taniquetil gebracht. Dort wird über sein Schicksal entschieden: Ihm wird ein neues Schiff gebaut, aus Mithril und Kristallglas, dem Varda den Silmaril als Banner und die Fähigkeit die Lüfte zu befahren verleiht. Von nun an ist es seine Aufgabe, als Stern den Himmel zu durchkreuzen: Er ist nun der „Flammifer von Westernis“.[2]

Werkgeschichte

Das Lied über Earendil ist nicht nur in Tolkiens Fiktion eine Weiterentwicklung aus Irrfahrt. Tatsächlich ist aus seinen Manuskripten ersichtlich, dass das längere Gedicht Schritt um Schritt aus Irrfahrt entwickelt wurde, um im Herrn der Ringe verwendet zu werden. Zuletzt haben Irrfahrt und das Lied über Earendil aber nur noch einen einzigen Vers gemeinsam: „his scabbard of chalcedony“.[3]

Insgesamt liegen 15 Manuskripte und Typoskripte des Gedichts in seiner Rolle als Bilbos Lied in Bruchtal vor. Die zahlreichen Versionen des Gedichtes können in drei Gruppen eingeteilt werden, die in zeitlich getrennten Phasen entstanden.

Die veröffentlichte Fassung

Die erste Gruppe aus drei Texten behält viele wesentliche Eigenschaften von Irrfahrt bei – die Texte beginnen mit „There was a merry messenger[3] (bzw. einer sehr ähnlichen Variante) – und enthalten zahlreiche „fantastische“ Abenteuer ähnlicher Art, wie sie in Irrfahrt zu finden sind. Allerdings werden auch Tirion und Ilmarin erwähnt, und am Ende wird der Seereisende zum „Flammifer of Westernesse“.[3] Diese Version beinhaltet also in sich den Übergang vom verspielten Märchen zur Geschichte von Earendil. Außerdem enthält sie eine Episode, in der der Seefahrer von Ungoliant gefangen genommen wird und er gegen sie kämpfen muss um sich zu befreien; dies war in den ersten Fassungen des Silmarillion auch eines der Abenteuer Earendils auf seinen Irrfahrten.

In der nächsten Gruppe aus sechs Texten, entstanden um oder nach 1944 (und einige Jahre nach der ersten Gruppe), ist das Gedicht kürzer als in der ersten Gruppe, da viele der spielerischen Abenteuer entfernt wurden (unter anderem die Begegnung mit Ungoliant). Das Gedicht hat nun einen ernsteren Charakter und ähnelt im Wortlaut an vielen Stellen schon der veröffentlichten Version; es beginnt aber immer noch mit „There was a merry messenger“.

Die Entstehung der dritten Gruppe vermutet Christopher Tolkien wiederum deutlich nach der der zweiten Gruppe. Die ersten beiden Versionen in dieser Gruppe beginnen nun bereits mit „Eärendel was a mariner[3] und sind der veröffentlichten Version in Struktur und Inhalt sehr ähnlich – sie erzählen die Geschichte von Earendil ohne die Ausschmückungen oder Verzerrungen, wie sie zuvor vorhanden waren. Die dritte Version ist schließlich die im Herrn der Ringe veröffentlichte (ab nun kurz die „veröffentlichte Fassung“ genannt), abgesehen von minimalen späteren Veränderungen. In dieser Version findet die Bewaffnung Earendils (die erstmals in der zweiten Gruppe beschrieben wird) nun nicht mehr in Tirion statt, sondern vor seinem Aufbruch von Arvernien.

Die Fassung letzter Hand

Bemerkenswerterweise ist dies aber nicht die letzte Version, die Tolkien verfasste: Parallel zu dieser letztendlich veröffentlichten erstellte Tolkien eine fast identische Fassung, die nun aber den Angriff der Söhne Feanors auf die Flüchtlinge an den Mündungen des Sirion erwähnt. Diese Fassung überarbeitete Tolkien noch zweimal, bis das Gedicht „in der Form, in der es hätte veröffentlicht werden sollen“[4] vorlag (ab nun kurz die „Fassung letzter Hand“ genannt). Die Manuskripte dieser letzten Entwicklungsstufen, so vermutet Christopher Tolkien, hatte Tolkien im entscheidenden Moment – als er das Manuskript des Herrn der Ringe für den Druck vorbereitete – verlegt und vergessen. Als er sie viel später wiederfand, war er verwirrt und versuchte sich zu erklären, wie und wieso er aus einer ausgefeilteren, längeren Fassung des Gedichts, die noch dazu in einer makellosen Reinschrift vorlag, die im Herrn der Ringe veröffentlichte Fassung entwickelte.

Die Fassung letzter Hand unterscheidet sich von der veröffentlichten durch einige Änderungen im Ausdruck und kaum wesentliche inhaltliche Veränderungen. Jedoch ist die vierte Strophe der Fassung letzter Hand um folgende Zeilen erweitert:

In might the Fëanorians | that swore the unforgotten oath
brought war into Arvernien | with burning and with broken troth;
and Elwing from her fastness dim | then cast her in the waters wide,
but like a mew was swiftly borne, | uplifted o’er the roaring tide.

—” J. R. R. Tolkien[3]

Mit Macht brachten die Feanorer, die den unvergessenen Eid schworen,
Krieg nach Arvernien, mit Brand und gebrochener Treue;
und Elwing warf sich von ihrer düsteren Festung in die weiten Gewässer,
wurde aber wie eine Möwe geschwind getragen, erhoben über die tosende Flut.

Übersetzung: Ardapedia

Aufbau und Form

Strophen

Das Lied über Earendil besteht aus neun Strophen, sowohl in der veröffentlichten Fassung wie auch in der Fassung letzter Hand. In letzterer allerdings ist, wie erwähnt, die vierte Strophe um die oben wiedergegebenen acht Zeilen länger. Die Strophen zeigen keine besondere Regelmäßigkeit in ihrer Länge, außer, dass sie auf Grund des Reimschemas stets eine gerade Anzahl an Zeilen enthalten:

Strophe 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Zeilen 8 12 16 16/24 20 16 12 12 12

Zeilen

So, wie das Lied über Earendil im Herrn der Ringe abgedruckt ist, hat es 124 Zeilen, die Version letzter Hand 132 Zeilen. Als Beispiel seien hier die ersten vier Zeilen angegeben:

Eärendil was a mariner
that tarried in Arvernien:
he built a boat of timber felled
in Nimbrethil to journey in.

—” J. R. R. Tolkien[5]

Earendil hieß ein Schiffer kühn,
Der weilte in Arvernien,
Schlug Holz und baute sich ein Schiff,
Von Nimbrethil auf Fahrt zu gehn.

Übersetzung: E.-M. von Freymann[6]

Dieser Zeilenumbruch verschleiert jedoch den regelmäßigen Aufbau des Gedichts. Um diese Struktur deutlicher zu machen empfiehlt es sich, die Zeilen (so wie sie „offiziell“ aufgeteilt sind) als Halbzeilen zu begreifen, von denen jeweils zwei eine Langzeile ergeben:

Eärendil was a mariner | that tarried in Arvernien:
he built a boat of timber felled | in Nimbrethil to journey in.
Earendil war ein Seemann der in Arvernien weilte:
Er baute ein Boot aus Holz, geschlagen in Nimbrethil, um darin zu reisen.

Übersetzung: Ardapedia

Reimschema

Die Langzeilen bilden Paarreime (nach dem Schema aa bb ... ). Daher haben alle Strophen eine gerade Anzahl an Langzeilen und eine durch vier teilbare Anzahl an Halbzeilen.

Die Reime sind allerdings nicht immer rein, wie im obigen Beispiel zu sehen ist: -nien reimt sich nicht sauber auf -ney in. Andererseits treten am Langzeilenende hin und wieder auch Ähnlichkeiten mehrerer Silben auf: fountains fall und Mountain Wall (achte Strophe) beispielsweise sind mehr als nur ein einfacher Endreim – jedoch ohne vollständig deckungsgleich zu sein.

Metrum

Das Gedicht ist durchgehend aus jambischen Versfüßen aufgebaut; das heißt, es folgen immer eine unbetonte und eine betonte Silbe aufeinander. Jede Halbzeile weist vier Hebungen auf:

Her sails he wove of silver fair, [...]

—” J. R. R. Tolkien[5]

Ihre Segel webte er aus schönem Silber.

Übersetzung: Ardapedia

Insgesamt wird das Metrum im gesamten Gedicht kaum gestört; chainéd und orbéd müssen, wie der Akzent anzeigt, zweisilbig ausgesprochen werden, um dem Versmaß gerecht zu werden. Irritierend wirkt allerdings gleich das erste Wort: Earendil beginnt nicht mit einem Diphthong, hat am Wortanfang also eine Silbe „zu viel“.[7]

Lautstilistik

Zwischen und in den Halbzeilen spinnt Tolkien ein Geflecht aus Lautbeziehungen, die sich nicht immer eindeutig in die traditionellen Kategorien der Lyrik-Analyse einordnen lassen. Diese Stilmittel treten immer an den betonten Silben der Langzeilen auf und dienen dazu, die Halbzeilen miteinander zu verbinden. Besonders häufig verwendet Tolkien dazu (annähernde) Binnenreime oder Assonanzen.

Folgende Phänomene lassen sich erkennen und benennen:

  • Binnenreime: „[...] he back was borne | on black and roaring waves [...]“
  • Alliterationen: „[...] he back was borne | on black and roaring waves [...]“
  • Assonanzen: „[...] he back was borne | on black and roaring waves [...]“
  • Ablaut-Paare: „[...] he back was borne | on black and roaring waves [...]“[5]

Manchmal treten die Stilmittel gehäuft auf, manchmal werden sie nur angedeutet. Ihr geradezu „verschwenderischer“ Einsatz fügt ihrer Funktion noch einen ornamentalen Charakter hinzu. Welches Stilmittel wo verwendet wird, folgt keinem festen Schema.

Die Ablaut-Paare treten relativ häufig in alliterierenden Wörtern auf, etwa back was borne, Night of Naught, years of yore – andererseits zeigen einige der betonten Silben auch unabhängig von der Alliteration einen Ablaut-Kontrast zueinander.

Wortwahl

Die Thematik des Gedichts bedingt, dass sich darin eine große Bandbreite an Bewegungsverben findet: to journey, to roam, to wander, to rove, to drive, to flee, to speed, to come, to go, to run, to escape, to sail und einige mehr.

Die am häufigsten verwendeten Verben jedoch sind to bear (someone), to turn, to pass und to tarry.

In der Fassung letzter Hand wird to bear (‚tragen‘) in der vierten und der fünften Strophe jeweils einmal auf Elwing und Earendil bezogen verwendet; sie werden hier als von höheren Mächten getragen dargestellt. In der achten Strophe hat sich die Situation schon verändert: Als Earendil mit seinem neuen Schiff ausläuft, tragen ihn dessen Flügel (his wings him bore), er hat jetzt also mehr Einfluss auf die Situation. In der letzten Strophe schließlich wird Earendil nicht mehr getragen, sondern trägt selbst den Silmaril (to bear his burning lamp).

To turn (‚abdrehen‘, ‚sich abwenden‘) wird dreimal verwendet und verweist auf die verschlungenen Wege von Earendils Irrfahrt.

Am interessantesten sind allerdings to pass (‚vorbeiziehen an‘, ‚weiterziehen‘) und to tarry (‚verweilen‘) – to tarry wird einmal auf Earendils Aufenthalt in Arvernien, einmal auf den in Tirion bezogen. Diesen Aufenthalten gegenüber stehen drei Verwendungen von to pass – einmal sogar in der Wendung to pass away, die synonym zu ‚sterben‘ ist.[8] Dieser Gegensatz kulminiert in der letzten Strophe:

But on him mighty doom was laid, [...] to pass, and tarry never more [...]

—” J. R. R. Tolkien[5]

Aber ihm wurde ein mächtiges Schicksal auferlegt, weiterzuziehen und niemals mehr zu verweilen

Übersetzung: Ardapedia

Die Beschreibung von Ilmarin in Valinor in der sechsten Strophe mit den Worten timeless ‚zeitlos‘, countless years ‚unzählige Jahre‘ und endless ‚endlos‘ (in einem Satz) unterstreicht durch die dreifache Teilwiederholung die Unvergänglichkeit und Zeitlosigkeit dieses Ortes.

Satzbau

Sehr auffällig ist die zueinander spiegelbildliche Konstruktion der jeweils letzten Langzeilen der dritten und vierten Strophe:

from West to East and errandless, | unheralded he homeward sped.

—” J. R. R. Tolkien[5]

Von Westen nach Osten und ohne Auftrag, kein Herold mehr, eilte er heimwärts.

Übersetzung: Ardapedia

Der West–Ost Bewegungsrichtung in der ersten Halbzeile am Ende der dritten Strophe gegenüber steht die Ost–West Bewegung in der zweiten Halbzeile am Ende der vierten Strophe:

[... across the grey] and long-forsaken seas distressed | from East to West he passed away.

—” J. R. R. Tolkien[5]

Über die grauen und lang-verlassenen Meere zog er in Bedrängnis von Osten nach Westen davon.

Übersetzung: Ardapedia

Zwischen diesen beiden Langzeilen liegt die Peripetie des Gedichts, und die erneute Umkehr Earendils in Richtung Westen. Der Satzbau unterstreicht diese inhaltliche Kehrtwende.

Zeilensprünge (Enjambements) werden in recht unterschiedlichem Maß verwendet: In der zweiten Strophe, die eine reine Aufzählung ist, sind viele der Halbzeilen syntaktisch fast eigenständig, während im restlichen Gedicht gewöhnlich zumindest die Langzeilen in sich eine syntatkische Einheit bilden. Auch sich reimende Langzeilen sind oft syntaktisch verknüpft. Der letzte Satz der fünften Strophe ist dagegen eher eine Ausnahme:

A wanderer escaped from night | to haven white he came at last,
to Elvenhome the green and fair | where keen the air, where pale as glass
beneath the Hill of Ilmarin | a-glimmer in a valley sheer
the lamplit towers of Tirion | are mirrored on the Shadowmere.

—” J. R. R. Tolkien[5]

Ein Wanderer, der Nacht entflohen, kam er zuletzt zum weißen Hafen,
nach Elbenheim, grün und schön, wo die Luft schneidend ist, wo blass wie Glas,
unter dem Berg von Ilmarin schimmernd in einem tiefen Tal,
die lampenbeleuchteten Türme von Tirion sich auf dem Schattensee spiegeln.

Übersetzung: Ardapedia

Interpretationsansätze

Bevor Bilbo sein Gedicht vorträgt, hört Frodo den elbischen Liedern in der Halle des Feuers zu. Diese haben eine besondere Wirkung auf ihn:

Dann wurde die Verzauberung immer traumähnlicher, bis er das Gefühl hatte, über ihn fließe ein endloser Strom von wallendem Gold und Silber hinweg, der zu vielfältig war, als dass er sein Muster hätte begreifen können; [...]

—” J. R. R. Tolkien[6]

Tom Shippey fasst die vielfältige und teilweise nur andeutende Verwendung der zahlreichen Stilmittel im Lied über Earendil, die eine „fließende“ und unsichere Wahrnehmung des Gedichts und seiner Strukturen bedingt, als dessen wichtigstes Merkmal auf. Dies seien „elbische“ Eigenschaften von Lyrik, so Shippey.

Strukturell ist das Gedicht ein Hybrid aus altenglischen (Alliteration; Langzeilen aus verbundenen Halbzeilen) und neuzeitlichen (Endreim, festes Metrum) Formen. Solch eine Mischung gab es in der englischen Literaturgeschichte schon einmal: im Alliterative Revival des Spätmittelalters. Damals griffen Dichter im Mittelenglischen auf altenglische Traditionen zurück und verwendeten verstärkt wieder Alliteration, wenn auch nicht mehr nach den strikten Regeln der Stabreim-Lyrik (wie beispielsweise Tolkien sie in seinem Aufsatz On Translating Beowulf beschreibt).

Eine zweite Tendenz des Alliterative Revival war, Gedichte von hoher formaler Komplexität zu schaffen. Als Beispiel kann das Gedicht Pearl genannt werden, welches Tolkien unter Beibehaltung der Form ins Neuenglische übersetzte. Dieses Gedicht wird von einem wichtigen Kritiker als „das am kompliziertesten aufgebaute Gedicht des Mittelenglischen“[9] bezeichnet. Shippey schätzt das Lied über Earendil ähnlich ein: es sei ein Beispiel „fast nie dagewesener Feinheiten von Vers und Strophe“.[10]

Auch die Alliteration-Ablaut-Kombination war im Alliterative Revival ein beliebtes Stilmittel.

Deutsche Übertragung

Beide deutsche Übersetzungen des Herrn der Ringe, sowohl die von Margaret Carroux wie auch die von Wolfgang Krege, verwenden die Übertragung des Liedes über Earendil von Ebba-Margareta von Freymann. Diese Übertragung behält nur das Versmaß des Originals bei, die anderen Stilmittel werden nicht nachgeahmt. Dafür ist die Übertragung ungekürzt und entspricht inhaltlich weitgehend dem Original. Die Einteilung der Strophen ist in der Übertragung verändert.

Zugegebenermaßen erreicht Tolkiens Gedicht eine Komplexität, die in Übersetzungen oder Übertragungen höchstens annähernd oder unvollständig wiedergeben werden kann.

Adaptionen

Das Tolkien Ensemble vertonte das Gedicht für ihr Album The Lord of the Rings – Complete Songs & Poems (2006). Das Lied wird von Nick Keir gesungen und vom Komponisten Peter Hall auf der Gitarre begleitet.

Anmerkungen

  1. So der Titel im Index I des Herrn der Ringe. Krege übersetzte dies als Bilbos Earendil-Lied. Der Titel der Fassung letzter Hand (siehe Abschnitt Werkgeschichte) ist The Short Lay of Eärendel: Eärendillinwë, deutsch etwa ‚Das Kurze Lied von Earendel: Earendillinwe‘ (Quenya Earendil-linwe ‚Earendil-Lied, Lied von Earendil‘).
  2. Flammifer bedeutet ‚feurig‘, abgeleitet vom lateinischen Adjektiv flammifer ‚feuertragend‘ (zusammengesetzt aus flamma ‚Flamme, Feuer‘ und ferre ‚tragen, bringen‘). Vgl. The Flammifer of Westerness: From Latin to English to Italian and beyond in Jason Fishers Blog.
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 aus: J. R. R. Tolkien: The Treason of Isengard. Chapter V: Bilbo’s Song at Rivendell.
  4. „in the form in which it should have been published.— Christopher Tolkien; aus: J. R. R. Tolkien: The Treason of Isengard. Houghton Mifflin, Boston 1989. Seite 103. Übersetzung: Ardapedia. Allerdings hat Christopher Tolkien offenbar keinen Versuch unternommen, diese Fassung letzter Hand doch noch im Herrn der Ringe einzufügen. Wayne G. Hammond und Christina Scull, die 2004 die 50th Anniversary Edition des Herrn der Ringe herausgaben, entschieden sich ebenfalls dagegen, den späteren Text zu verwenden, da sie bei ihren Korrekturen konservativ vorgingen und Tolkien selbst den längeren Text nicht in der zweiten Auflage des Herrn der Ringe verwendet hatte. Stattdessen veröffentlichten Hammond und Scull die Fassung letzter Hand vollständig in The Lord of the Rings: A Reader’s Companion (in der Anmerkung zu Seite 233).
  5. 5,0 5,1 5,2 5,3 5,4 5,5 5,6 aus: J. R. R. Tolkien: The Lord of the Rings. Book Two, Chapter I: Many Meetings.
  6. 6,0 6,1 aus: J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Erstes Kapitel: Viele Begegnungen.
  7. In der Rezitation könnte dies möglicherweise ausgeglichen werden, wenn der Vortragende das Anfangs-E ausgedehnt spricht und so „vor“ den Anfang des Gedichts stellt – ähnlich wie Tolkien vor Beginn der Rezitation von Namárië das Ai! am Anfang ausgedehnt und außerhalb des Metrums zu wiederholen pflegte.
  8. Mit den gleichen Worten wird in Frodos Vision in Galadriels Spiegel auch das weiße Schiff beschrieben, mit dem Frodo und Bilbo von den Grauen Anfurten in den Westen abreisten:
    [...] the sun went down in a burning red that faded into a grey mist; and into the mist a small ship passed away, twinkling with lights.

    —” J. R. R. Tolkien: The Lord of the Rings. Book Two, Chapter VII: The Mirror of Galadriel.

    [...] die Sonne [ging] in einem brennenden Rot unter, das zu einem grauen Nebel verblasste; und in dem Nebel fuhr ein kleines Schiff davon, auf dem Lichter blinkten.

    Übersetzung: Margaret Carroux, aus: J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Siebtes Kapitel: Galadriels Spiegel.

    Bezeichnenderweise ist das Letzte, was Sam von diesem Schiff sieht, das Licht von Galadriels Phiole – also Earendils Licht.

  9. „the most [...] intricately constructed poem in Middle English“ Ian Bishop: Pearl in its Setting: A Critical Study of the Structure and Meaning of the Middle English Poem. Blackwell, Oxford 1968. S. 27. Übersetzung: Ardapedia.
  10. „barely-precedented intricacies of line and stanza“ Tom Shippey: The Road to Middle-earth. Revised and expanded edition. HarperCollins, London 2005. S. 217. Übersetzung: Ardapedia.

Quellen

J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe; Zweites Buch, Erstes Kapitel: Viele Begegnungen

  • Register
    • I. Lieder und Gedichte

J. R. R. Tolkien: Die Abenteuer des Tom Bombadil. Übersetzt von Ebba-Margareta von Freymann und Thelma von Freymann. Klett-Cotta, Stuttgart 1984. (Im Original erschienen 1962 unter dem Titel The Adventures of Tom Bombadil and other verses from the Red Book.)

  • Vorwort

J. R. R. Tolkien: The Treason of Isengard. (The History of Middle-earth, Band VII.) Herausgegeben von Christopher Tolkien. HoughtonMifflin, Boston/New York 2000.

  • Kapitel V: Bilbo’s Song at Rivendell: Errantry and Eärendillinwë

Tom Shippey: The Road to Middle-earth. HarperCollins, London 2005 (3. Auflage).

  • Chapter 6: ‘When All Our Fathers Worshipped Stock and Stone’
    • The elvish tradition
Dies ist ein als exzellent ausgezeichneter Artikel
Dies ist ein als exzellent ausgezeichneter Artikel Dieser Artikel wurde in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen!